Der alte Schatz des Bremer Ratskellers

 

 

 

 

 

Der 1727er Rüdesheimer aus dem Bremer Ratskeller ist der älteste Wein der Welt. Die Ehrfurcht war groß. Die Erwartungen nicht. Das war ein Fehler.

Zuerst Verwunderung, dann Verblüffung, schließlich – je länger er nachdachte – völlige Verständnislosigkeit: „Mein Vater fährt stundenlang mit dem Auto, um vergammelten Wein zu trinken.“ Das Wort ,vergammelt‘ machte ihm dabei sichtlich Vergnügen. Und ehrlich gesagt, ganz sicher war ich mir auch nicht. Ein 1727er Weisswein, der Zeit seines Lebens in einem Holzfass vor sich hin reifte und irgendwann in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts abgefüllt wurde. Schmeckt sowas? Wenn ja, wie? Jedenfalls war die Neugier deutlich größer, als die Erwartung. Der 1727er Rüdesheimer vom Bremer Ratskeller, bekannt auch als „Apostelwein“, gilt als ältester Flaschenwein der Welt, und je länger ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich, dass mein Sohn wahrscheinlich recht hatte. Ich fuhr trotzdem nach Bochum. Immerhin standen ja noch andere feine Weine auf der Liste. Ein Erlebnis wird es in jedem Fall. Habe ich mir gedacht.

Ich sollte mich gehörig täuschen. Nicht, dass es kein Erlebnis war. Es war eine der interessantesten Weinproben bisher. Getäuscht habe ich mich nur bezüglich des Rüdesheimers. Der war nämlich alles andere, als vergammelt. Im Gegenteil. Der Wein strahlte in dunklen Bernstein-Tönen aus dem Glas. Nachdem er unmittelbar nach dem Einschenken noch etwas zurückhaltend schien, als würde er sich nicht so recht aus dem Glas trauen, veränderte sich der Wein daraufhin, legte seine Scheu ab und präsentierte eine zauberhafte Vielfalt. Bisquitnoten, kandierte Früchte, englischer Christmas Pudding mit allem, was dazugehört: Rosinen, Zibeben und leicht nussige Noten. Eine gewisse Nähe zu Sherry ist nicht zu leugnen. Außerdem Schwarztee, Orangenblüten und Zesten. Lady Grey, der mit Bergamotte und Zitrusschale aromatisierte Schwarztee liegt hier sehr nahe.

Am Gaumen verspielt, nussig, ebenfalls wieder sherry-like. Nicht ganz so eindrucksvoll, wie in der Nase, aber ganz deutlich über den Erwartungen. Und wenn wir schon beim Gaumen sind. Ein Wein ist für mich nur dann gut und brauchbar, wenn er sich in Kombination zum Essen bewährt. Jetzt ist mir schon klar, dass das Menü in der Gastronomie im Stadtpark nicht exakt auf die Weine abgestimmt werden konnte. Also habe ich auf gut Glück mein Kostglas mit dem Apostelwein für den Gebratenen Rochenflügel auf Gemüserisotto und Olivenpesto aufgehoben. Hammer! Der Rochen bot dem alten Rüdesheimer eine Bühne für seinen letzten großen Auftritt. Ein finale furioso mit lang anhaltendem Schlussapplaus.

Einmal ehrlich: wer weiss, wie die Welt im Jahr 1727 ausgesehen hat, beziehungsweise was sich in ihr zu der Zeit abgespielt hat? Die Namen, die zu diesem Jahr gehören, liegen auch in unserem historischen Bewusstsein recht weit weg. Es war das Todesjahr von Sir Isaac Newton, Johann Sebastian Bach hat seine Matthäus-Passion vollendet und Maria Theresia von Österreich war gerade einmal 10 Jahre alt. Ich finde es unglaublich, dass ein Wein dieses Alters noch so viel Freude machen kann.

Nach 6 Stunden im Glas – Kollege Del Monego hat es geschafft, eine kleine Menge vor sich selbst und anderen zu schützen – war der Rüdesheimer immer noch in Hochform. Während dieser Zeit haben sich andere Weine der Probe schon längst verabschiedet. Der Niersteiner von 1870, in der ersten halben Stunde nach dem Einschenken ein echter Winner war da nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Rüdesheimer aber – vor allem sein Aroma – stand noch im Glas. Aufrecht und unverrückbar wie die Wacht am Rhein.

Dank an Uwe Bende vom Weinforum Ruhrgebiet für die perfekte Organisation der Weine und des Tastings. Über den 47er Cheval Blanc, den 29er Pétrus oder den 47er Unico von Vega Sicilia schreibe ich an anderer Stelle.

 

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